6. März 2023
Ortsunkenntnis kann zuweilen von Vorteil sein oder, sagen wir, für überraschende Zufälle sorgen. Nachdem ich auf der Mainzerstraße geparkt hatte und mich verzweifelt auf die Suche nach der mir bisher nur dem Namen nach bekannten Cusanus-Schule begab, bog ich unter anderen in die Johannes-Müller-Straße ein, die ich mir für den Rückweg gut zu merken versuchte. Wie erstaunt war ich, beim anschließenden Vortrag zu erfahren, genau auf diese Weise einige der Lebensstationen der jüdischen Familie Hermann nachgegangen zu sein. Wie wurden für mich Orte mit einem Mal lebendig, die ich bis eben nur durch Zufall kannte!
Noch manche andere Orte ließ der Vortrag zu neuem Leben erwachen. So erfahren wir von einer Jugendgruppe, die sich im Garten hinter der damaligen Synagoge getroffen hat, und spüren gleich den Wunsch, dass auch diese alte Synagoge im Bürresheimer Hof, wenn der Bau der neuen hoffentlich rasch vonstatten geht, nicht so schnell vergessen werde. Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums ließen mit wechselnden Stimmen das Lebensbild der Hermanns lebendig werden, indem sie Abschnitte aus dem Buch vorlasen, wie es Harald Orth nach vorausgegangenen Arbeiten von Elmar Ries und Helene Thill (ehemalige Vorstandsmitglieder der CJG, wahrscheinlich angeregt durch den Heimatbesuch von Kurt Hermann), ergänzt durch weitere Einsichten ins Stadtarchiv, zusammengestellt hat. Er hat sein Buch mit dem Titel „Wir lachten oft und gern“ (nach einem Briefzitat) so entworfen, dass es parallel zum Schicksal dieser Einzelfamilie auch die schrittweise, aber systematisch vorgehende Vernichtungsstrategie der Nazis beispielhaft beschreibt und nachzeichnet und damit einen unschätzbaren „pädagogischen“ Zweck erfüllt. Durch Nachfragen aus dem Publikum erfahren wir später, wie es den Machthabern u.a. durch ein Heer von Spitzeln gelang, die anfangs nicht als Nazihochburg angelegte Stadt Koblenz unter völlige Kontrolle zu bekommen. Ebenso kommen aber auch die verschiedenen Maßnahmen auf der jüdischen Gegenseite zu Wort, die verschiedenen jüdischen Zusammenschlüsse, oft zionistischer Prägung, mit ihren jeweiligen Treffpunkten im Koblenzer Raum. Deren Ideen und Atmosphäre konnten mit ihren Zukunftshoffnungen in den durch den Klarinettisten Walter Oswald-Wambach eingestreuten, aus der jüdischen Musiktradition geschöpften Stücken gut nachklingen.
Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand und steht aber stellvertretend für so viele Opfer die Hannelore als jüngstes, aber geistig waches und frühreifes Kind der Familie, das so erwartungsvoll ins Leben schaute und das doch zusammen mit ihren Eltern der Deportation zum Opfer fiel, während ihre älteren Geschwister derselben durch rechtzeitige Auswanderung entkommen, dadurch aber auch den Briefwechsel erhalten konnten. In der Deportation verliert sich ihre Spur im völligen Dunkel. Mögen ihre Lebensspuren in Koblenz umso lebendiger bewahrt bleiben!
Alban Rüttenauer